Dieses unscharfe alte Handy-Foto der herbstlichen Lampionblume bringt mich darauf, dass ich gerne ergründe, was hinter einer Oberfläche liegt. Wie einfach ließe sich mein Forscherdrang stillen, wenn alles so durchsichtig wäre wie diese Pflanze. Durch die filigrane Hülle sehen wir direkt in das Innere und wissen Bescheid, oder?
Die Realität ist meistes anders: Wir bekommen eine glänzende Fassade gezeigt, die beeindruckt. Manchmal so sehr, dass wir es dabei belassen und es für die Wahrheit halten. Umgekehrt geht es genauso: Die Art und Weise, wie wir unsere Geschichten erzählen, bestimmt das Bild, das wir von uns erzeugen. Manche Menschen haben daraus ihren Beruf gemacht, betreiben Storytelling und gestalten das Narrativ.
Und nein, das tun nicht nur Werbeleute, Schauspieler, Regisseurinnen oder Politiker. Wir alle spielen Theater, wie der kanadische Soziologe Erving Goffmann bereits Ende der 1950er Jahre aus seinen Beobachtungen folgerte. Wir nehmen verschiedene Rollen ein, sind zugleich Publikum, interagieren mit den anderen und versuchen sie zu beeinflussen. Das geschieht nicht nur mit dem, was wir sagen, sondern auch mit unserer Mimik, Körpersprache und Kleidung ausdrücken. Tatsächlich liegt der Schwerpunkt des Ausdrucks auf dem Nonverbalen. Das überrascht die meisten, vermuten wir doch, dass vor allem unsere Worte über unsere Erfolge entscheiden.
Dieser komplexen Dynamik sind sich die meisten Menschen nicht bewusst, obwohl sie alle routiniert darin mitspielen. Um zwischenmenschliche Interaktion ein klein wenig durchsichtiger zu machen, hilft es, die eigene Interaktion etwas bewusster zu steuern. Also nicht auf einen Reiz sogleich mit einer Reaktion antworten. Sondern sich eine kleine Pause, eine Lücke zu erlauben, um den Ausdruck des Gegenübers zu beachten und eine Idee über das Dahinterliegende zu entwickeln. Es geht um die möglichen Möglichkeiten, die Hintergründe und denkbaren Motive eines Menschen, so zu handeln. Die wahre Wahrheit finden wir dort nicht, und ich vermute, dass es die ohnehin gar nicht gibt. Bescheid zu wissen, den Durchblick zu haben, ist meiner Erfahrung nach eine Illusion.
