Ich kann das nicht

18. Februar 2021

Ich kann das nicht

Diesen Satz höre ich immer mal wieder in den Gesprächen mit meinen Coachees. Und im ersten, unbedachten Impuls mag ich zustimmen, denn das, worum es für diese Person geht, ist auch aus meiner Sicht nicht einfach. Ich kann das spontane Zurückschrecken gut verstehen. Zumal ich das von mir selbst auch kenne. Wie auf dem Foto (das ist die Versorgungsanlage in meiner Praxiswohnung): Huch, da fasse ich am Besten überhaupt nichts an! Leider muss ich das in ganz speziellen Fällen mal tun.

Aber wie gesagt: Die Reaktion ist unbedacht und spontan, denn sie kommt aus dem Bereich des „schnellen Denkens“, das Daniel Kahneman so anschaulich beschreibt. Im Modus des „langsamen Denkens“ haben wir mehr Möglichkeiten, die Situation, um die es geht, zu betrachten und zu bewerten.

Das Betrachten stellt Fragen wie: Worum geht es genau? Was ist das Ziel? Was muss jemand tun, um es zu erreichen? Wer und was kann dabei hilfreich sein? Das Bewerten stellt andere Fragen: Darf ich das? Will ich das? Was folgt für mich, wenn ich es tue oder unterlasse?

Das Betrachten ist schon durchaus anspruchsvoll. Und es vermischt sich in Nullkommanix mit den Bewertungen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Klettern:

  • Worum geht es?                      Diese Wand hochklettern
  • Was ist das Ziel?                     Sicher oben ankommen und auch wieder zurückkehren
  • Was muss man dafür tun?      Die notwendigen Fertigkeiten und Werkzeuge einsetzen
  • Wer und was hilft?                  Rat von anderen einholen. Viele kleine und später größere Übungen machen

Haben Sie sich den Berg und seine Steilwand vorgestellt? Dann haben Sie gefühlt, wie hoch es ist, wie glatt die Wand ist und dass der obere Rand kaum zu sehen ist. Wurde Ihnen ein wenig schwindelig? Schlug das Herz schneller? Fühlten Sie Angst oder waren Sie aufgeregt, angespannt? Das sind verlässliche Anzeichen dafür, dass sich Ihr unbewusstes Bewertungssystem in die Betrachtung eingemischt hat. Und das ist vollkommen normal. Es sagt: Ui, ist das hoch! Und es ist steil! Das geht überhaupt nicht! Ich bin viel zu […] dafür! Ich mache das nicht! Das ist mir zu gefährlich!

Im Fall der Kletterwand kann das Bewertungssystem erst einmal so bleiben, wie es ist. Denn Wände zu klettern gehört nicht zu den alltäglich notwendigen Aufgaben, um ein gelungenes Leben zu führen. Anders ist es für Menschen mit Ängsten und Phobien, die schon vieles in ihrem Alltag vermeiden: Sie werden sich irgendwann therapeutische Hilfe holen müssen, wenn sie mit der bisherigen Strategie nicht weiterkommen.

Dennoch ist der Unterschied nicht so groß. Denn wer eine Situation, vor der er spontan wegläuft, bewältigen will, muss sich umdrehen und genau hinschauen: Was ist hier Tatsache? Und was ist meine Bewertung? Das zu unterscheiden ist eine wichtige Angelegenheit. Und sie erfordert Mut. Wie der römische Philosoph Seneca sagt: Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.

Ich drücke es lieber etwas einfacher aus: Es geht nicht darum, etwas zu können, sondern dranzubleiben und es immer weiter zu versuchen und zu üben.